Nur noch wenige Tage bis fast alle Corona-Maßnahmen fallen sollen, trotz steigender Infektionszahlen. Ein Datum mit dem symbolträchtigen Namen „Freedom Day“, über dessen Zeitpunkt gerade wieder heftig debattiert wird. Werden wir dann wieder so leben wie vor der Pandemie? Ist danach alles vergessen? Judith Mark, Sozialraummanagerin bei den Barmherzigen Brüdern Schönfelderhof, hat sich Gedanken rund um den symbolträchtigen Tag gemacht. Nicht nur, aber auch, weil sie es jeden Tag mit vulnerablen Personen zu tun hat.
Am Sonntag ist es soweit, der lang ersehnte Freedom Day in Deutschland steht an. Bis zum 20. März sollen die aktuellen Schutzmaßnahmen in drei Schritten fast vollständig gelockert werden: Alle dürfen wieder in den Einzelhandel, in der Gastronomie gilt 3G statt 2G und am Tag aller Tage fallen schließlich auch die letzten Schutzmaßnahmen. Fast, denn Abstandsregelungen werden uns weiterhin begleiten ebenso wie Impfnachweispflicht, Maskenpflicht in den Öffentlichen Verkehrsmitteln und Testpflicht in bestimmten Bereichen. Nicht zu vergessen die altbekannten allgemeinen Hygienevorgaben.
Ist das nun
eine Rückkehr in die lang ersehnte Normalität? Was ist denn unsere Normalität?
Verschiebt sich eine Normalität nicht immer wieder, abhängig von den
Umweltfaktoren und der persönlichen Situation? So gehörten Masken, Abstand,
Soziale Distanz und Homeoffice für über zwei Jahre zu unserer Normalität. Der
20. März bedeutet eine Zäsur, aber wird es wieder wie vor der Pandemie? Geht
das überhaupt? Wir sind doch irgendwie noch mittendrin!
Die
Regelungen waren und sind für mich eine Sicherheit, vor allem im direkten
Umgang mit vulnerablen Personen. Ich arbeite auf dem Schönfelderhof in Zemmer
und empfinde die Maßnahmen nicht nur als guten und wichtigen Schutz für mich,
sondern auch für die Klient*innen, deren Zuhause ich täglich betrete.
Bis zum
sogenannten Freedom Day wird Corona nicht weg sein. Mit Blick auf die aktuellen
Zahlen in meinem Umfeld sind zu diesem Zeitpunkt sicherlich noch einige Bekannte
und Freunde in Quarantäne. Corona ist noch da und wird uns noch viel länger
begleiten. Wir müssen lernen, damit zu leben!
Viele
Klient*innen freuen sich, denn besonders für sie bedeuten die Lockerungen ein
Stück weit Rückkehr zur Normalität. Vor über zwei Jahren wurde die
Alltagsstruktur, die besonders für psychisch erkrankte Menschen wichtig ist,
schlagartig durchbrochen. Nahezu nichts war mehr wie gewohnt, die Angst vor
Infektionen wurde ein ständiger Begleiter. Gewohnheit und Tagesstruktur sind
wichtig, das haben wir in dieser Zeit deutlich – und mitunter auch schmerzhaft
– gespürt.
Der
Schönfelderhof liegt idyllisch, aber auch etwas abgelegen. Das ist gleichzeitig
Fluch und Segen. Haben wir bis heute kaum Infektionen bei Klient*innen, waren es
jedoch teilweise auch für viele Klient*innen zwei einsame Jahre. Deswegen
wünsche ich mir für diese Menschen wieder mehr unkomplizierten Alltag, mehr langfristige
Struktur und ja, mehr Freiheit. Eben eine neue Normalität mit vielen
Freiheiten, die trotzdem die AHA+L-Regeln einschließt.
Ich muss
zugeben, es fällt mir nicht leicht, über diesen „Stichtag“ zu schreiben als
wäre es ein nationaler Feiertag mit dem wir als Gesellschaft uns und unsere
Freiheit feiern. Es fällt mir vor allem nicht leicht, weil vor Kurzem in Europa
ein Krieg ausgebrochen ist. Unschuldige Menschen werden attackiert, sind heimatlos
und haben keinen „Freedom“. Während wir unsere Maßnahmen fallen lassen, die uns
in den letzten beiden Jahren geschützt haben, sind in unserer unmittelbaren Nähe
Menschen schutzlos.
Uns allen
wünsche ich, dass wir die Freiheit, die die jetzigen Corona-Maßnahmen erlauben, genießen können. Denn wir erleben gerade, dass geltende Hygieneregeln oder
anstehende Lockerungen ein vergleichsweise kleines, unwichtigeres Thema sind.