Gesundheit ist ein hohes
Gut und wird in Umfragen immer wieder als der wichtigste
Lebensbereich beurteilt. Um sie zu erhalten, wird viel Geld ausgegeben.
Medizinisch sind immer bessere Behandlungen möglich. Aber, Therapien kosten.
Ist die gute Versorgung, die wir in Deutschland genießen, überhaupt auf Dauer
finanzierbar? Dieser Frage geht der Gesundheitsökonom Professor Dr. Thomas Kolb
nach.
Stellen Sie sich vor, Sie
sind bei einer Krankenkasse beschäftigt und haben 10.000 Euro zur Verfügung,
die für die Behandlung von Patienten in einem Krankenhaus bestimmt sind. Auf
Ihrem Tisch liegen zwei Leistungsanfragen, von denen jede genau so viel kosten
soll. Sie sollen nun bewerten, ob das Geld für die Behandlung eines 5-jährigen
Kindes oder eines 50-jährigen Familienvaters verwendet wird. Wie entscheiden
Sie? Eine derartige Diskussion ist im deutschen Gesundheitssystem aktuell kein
Thema.
Das verwundert, da
politisch spätestens seit dem Jahr 1993 mit Einführung des Gesundheitsstrukturgesetzes
Mechanismen wie Budgetierung und Deckelung in das Sozialgesetzbuch (SGB) integriert
wurden. Betrachtet man zunächst das Versprechen des Gesetzgebers: Gleich zu
Beginn des Gesetzbuches ist der Grundsatz von Solidarität und Eigenverantwortung
beschrieben, bei der die Gesetzliche Krankenversicherung (GKV) und die Versicherten
gemeinsam die Gesundheit der Versicherten erhalten, wiederherstellen oder sogar
den Gesundheitszustand verbessern sollen (vgl. §1 SGB V).
Allerdings schränkt der
Gesetzgeber dies gleich im nachfolgenden Paragraf unter Verweis auf das
sogenannte Wirtschaftlichkeitsgebot des §12 SGB V wieder ein: Die Leistungen
für die Versicherten werden von den Krankenkassen unter Beachtung des
Wirtschaftlichkeitsgebots zur Verfügung gestellt, sofern sie nicht der
Eigenverantwortung der Versicherten zuzurechnen sind. Hierbei erfolgt zwar der
Verweis auf die Qualität und Wirksamkeit der Leistungen und die Beachtung des
medizinischen Fortschritts nach Maßgabe eines allgemein anerkannten Stands der
medizinischen Erkenntnisse, doch das hat seine Begrenzung in der wirtschaftlichen
Machbarkeit.
Dazu kommt, dass die
Leistungen der Gesetzlichen Krankenversicherung über Beiträge finanziert
werden, die grundsätzlich solidarisch je zur Hälfte von den Versicherten und
ihren Arbeitgebern zu tragen sind. Doch die Empfänger dieser Leistungen sind
nicht allein die Versicherten, sondern auch Familienversicherte - also Mitglieder
ohne eigene Beitragsleistung.
Betrachtet man daher im
ersten Schritt die Gruppe der Leistungsempfänger im deutschen Gesundheitssystem,
so sind rund 85 Prozent der Bevölkerung, also etwa 70 Millionen Menschen,
Mitglieder in der Gesetzlichen Krankenversicherung. Davon sind etwa 19 Millionen
familienversichert. Das deutsche GKV-System wird also von circa 50 Millionen Beitragsleistenden
finanziert, die Leistungen aber von rund 70 Millionen Menschen konsumiert.
Mit den zur Verfügung
stehenden Mitteln werden beispielsweise 20 Millionen stationäre Behandlungen
pro Kalenderjahr ermöglicht. Das heißt: Rund jeder Vierte in der Bundesrepublik
begibt sich ein Mal pro Kalenderjahr in stationäre Krankenhausbehandlung.
Hierfür entstehen in der Summe rund 70 Milliarden Euro Kosten für stationäre
Behandlung und die Gesamtausgaben der GKV belaufen sich auf ungefähr 205 Milliarden
Euro. Gemessen am Brutto-Inlands-Produkt (BIP) liegen die Gesamtausgaben für
die Gesundheitsversorgung (inklusive der Leistungen der Privaten
Krankenversicherung) sogar bei etwa 330 Milliarden Euro bzw. 11,2 Prozent des
BIP. Eine gewaltige Zahl, die für die Gesundheitsversorgung der Bevölkerung
aufgebracht wird.
Doch die Meldungen in der
Tagespresse häufen sich, dass die Leistungen nicht ausreichen, Wartezeiten zu
lang sind, Leistungserbringer auf dem Land nicht mehr zur Verfügung stehen oder
Krankenhäuser gar aus wirtschaftlichen Gründen geschlossen werden müssen. Ist
vielleicht unsere Anspruchshaltung zu hoch? Leben wir über unsere Verhältnisse?
Oder sind wir im deutschen Gesundheitswesen verwöhnt?
Bereits seit einigen
Jahren zeichnet sich - neben dem bekannten demografischen Wandel - eine
Entwicklung ab, deren Finanzierbarkeit die Solidargemeinschaft vor große Probleme
stellt.
Dabei sind die Vorgaben
klar formuliert: Die GKV hat die Aufgabe, eine bedarfsgerechte medizinische
Versorgung sicherzustellen, den Leistungserbringern eine angemessene Vergütung
zu zahlen und hierbei die Beiträge für die Versicherungsleistungen stabil zu
halten. Doch ganz so einfach ist es dann doch nicht! Ein nahezu unlösbares
Dreieck aus Zielkonflikten führt dazu, dass - je nach Betrachtung - die eine
oder die andere Priorität gesetzt wird. Gesundheitsökonomisch besteht also die
Herausforderung darin, bei grundsätzlich knappen Ressourcen die Verteilungsgerechtigkeit
in Einklang mit den medizinischen Möglichkeiten, deren Finanzierbarkeit und deren
Qualität zu bringen. Diese sehr theoretische Betrachtung hat der Gesetzgeber
sogar mit dem Wirtschaftlichkeitsgebot nach §12 SGB V hinterlegt. Es besagt, dass
Leistungen ausreichend, zweckmäßig und wirtschaftlich sein müssen und das Maß
des Notwendigen nicht überschreiten dürfen. Werden diese Voraussetzungen nicht
erfüllt, dürfen die Leistungen weder von den Versicherten nachgefragt, noch von
den Leistungserbringern erbracht, noch von der Krankensicherung bewilligt und
letztendlich auch bezahlt werden.
Gehen wir bei diesen
Vorgaben davon aus, dass sich der Patient auch so verhält und grundsätzlich in
Bezug auf die Inanspruchnahme der Gesundheitsleistung mündig "konsumiert",
unterliegen wir jedoch einer Fehlannahme. Man nennt dies in der Ökonomie das
Moral Hazard. Es besagt, dass sich Versicherte verantwortungslos
oder leichtsinnig aufgrund des versicherten Risikos verhalten.
Ein Beispiel: Bereits vor
vielen Jahren implementierte der Gesetzgeber in Form einer optionalen Patientenquittung
die Möglichkeit, dass die Patienten im Anschluss an die Versorgung über die in
Anspruch genommenen Leistungen und die Vergütung der Leistungserbringer Transparenz
erhalten - ein erhofftes Mittel zur Vermeidung von Moral Hazard und zur Vermeidung
stärkerer Selbstbeteiligungen des Patienten. Allerdings zeigte ein Modellprojekt
in Rheinland-Pfalz sehr deutlich, dass die Patienten hieran nur wenig Interesse
haben und ihnen das Ausstellen der Patientenquittung mehrheitlich gleichgültig
war, da die Leistungen "ohnehin durch die jeweilige Krankenkasse übernommen würden".
Ein aus gesundheitsökonomischer Sicht erwartbares Verhalten!
Der Patient zahlt einen anonymen
Beitrag an seine gesetzliche Krankenversicherung, um zu einem späteren Zeitpunkt
eine nicht mit diesem Beitrag in Verbindung stehende Leistung finanziert zu
bekommen. Diese Leistung konsumiert er zudem nicht bei der jeweiligen Krankenversicherung
selbst, sondern bei zugelassenen Leistungserbringern wie Ärzten, Krankenhäusern,
etc. Hierbei erhält er obendrein noch das Recht, den Leistungserbringer frei zu
wählen und lediglich durch die Vorlage seiner Versichertenkarte zu zahlen.
Seine Krankenversicherung stellt ihm hierfür eine "Goldene Kreditkarte ohne
Limit" aus. Ein Privileg des deutschen Krankenversicherten, das den
internationalen Vergleich sucht.
Der Versicherte hat somit
die Möglichkeit, sein individuelles Gesundheitsrisiko vollständig und ohne
eigene Haftung auf die Solidargemeinschaft abzuwälzen. Nach dem vorgenannten
Prinzip verändert sich das Verhalten des Versicherten in Bezug auf sein
Risikoverhalten. Durch den unbedingten Versicherungsschutz vermeidet er das
Risiko nicht, sondern wälzt es direkt auf die Solidargemeinschaft ab. Es
entsteht ein Widerspruch zwischen dem Verhalten, das für das Individuum, und
dem Verhalten, das für die Solidargemeinschaft vernünftig ist. Streng genommen,
fallen hierunter zum Beispiel gesetzlich Versicherte, die rauchen. Müsste genau
dieser Versicherte für sein Verhalten haften - etwa mit steigenden Versicherungsbeiträgen bei
höherem Risiko -, würde er die "Kaufentscheidung" anders fällen.
Dieser
Rückkopplungsmechanismus entfällt jedoch, da der gesetzlich Krankenversicherte keine
Notwendigkeit darin erkennt, sich risikovermeidend zu verhalten. Zudem werden gesellschaftliche
Diskussionen mit dem Argument der sozialen Gleichbehandlung und Verträglichkeit
bereits im Keim erstickt!
Im Jahr 2010 formulierte
die Friedrich-Naumann-Stiftung sehr prägnant vier Kernprobleme im deutschen Gesundheitswesen:
Welche Optionen bleiben - ohne ethisch-moralische Grundsätze über Bord zu werfen und das hohe Gut der solidarischen Versorgung und Finanzierung aufgeben zu müssen? Und vor allem, ohne unter den Entscheidungsdruck im Sinne des eingangs gestellten Beispiels zu geraten?
2016 formulierten
Vertreter eines medizinischen Ethik-Symposiums "Zum Verhältnis von Medizin und
Ökonomie im deutschen Gesundheitssystem" die These, dass es ebenso unsolidarisch
sei, einzelnen Mitgliedern der Solidargemeinschaft eine Leistung vor zu
enthalten, wie allen Mitgliedern der Solidargemeinschaft die gleiche (und somit
geringere) Leistung zu geben - und so besonders zuwendungsbedürftigen
Mitgliedern keine Leistung in ausreichender Höhe zur Verfügung zu stellen. In
diesem Sinne könne auch übertriebene Verteilungsgerechtigkeit unsolidarisch
sein.
Ein Beispiel für gelungene gesellschaftliche Diskussion findet man in Schweden. Dort wurde bereits zum Ende der 1980er-Jahre die steigende Diskrepanz zwischen gesundheitlichen Bedürfnissen und zur Verfügung stehenden Ressourcen erkannt. Daher entschied man, die Steuerung des Zugangs zur medizinischen Versorgung bei nicht akuten Erkrankungen anhand von medizinischen Kriterien zu regulieren. Hierzu wurde im Jahr 1992 eine parlamentarische Priorisierungskommission eingerichtet, im Jahr 1997 die Grundprinzipien der Priorisierung durch den Reichstag verabschiedet und im selben Jahr eine Priorisierungsordnung erlassen.
Als Grundprinzipien des
solidarischen Miteinanders vereinbarte man drei Prinzipien:
In einer hierauf aufbauenden Priorisierungsordnung wurde nach folgender Reihenfolge vorgegangen:
Für unser bundesrepublikanisches
Gesundheitswesen können daher folgende Feststellungen getroffen werden:
Professor Dr. Thomas
Kolb ist Leiter des
Studiengangs Gesundheitsökonomie im Fachbereich Wiesbaden Business School der
Hochschule RheinMain. Der Wirtschaftswissenschaftler mit Schwerpunkt Krankenhausmanagement und Gesundheitsökonomie ist
unter anderem auch Dozent am Deutschen
Krankenhausinstitut.