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09.08.2018 / aktualisiert 18.09.2020

Leben in einer anderen Welt

Der Blick verliert sich im Nirgendwo, und eine innere Unruhe treibt sie ständig an. Menschen, die an Demenz erkrankt sind, haben den Kontakt zum Hier und Jetzt verloren. Sie leben in ihrer ganz eigenen Welt. Das Pflegeteam der Wohngruppe St. Hedwig im saarländischen Rilchingen begleitet sie dabei.

Rosemarie Berger hat ein schönes Zimmer in der Wohngruppe St. Hedwig. Hell ist es dort, und an der Wand hängen Fotos ihrer Familie. Doch in ihrem Zimmer hält es Frau Berger nicht lange. Sie läuft lieber. Stundenlang geht die zierliche kleine Frau den Gang entlang, langsam, aber doch trittsicher, immer in derselben Richtung. Dass im Aufenthaltsraum nebenan eine Gruppe Frauen Gemüse für das Mittagessen schnippelt, dass eine Betreuerin mit einer anderen Gruppe Volkslieder singt - Rosemarie Berger kümmert das nicht. Die 85-Jährige leidet an schwerer Demenz. Vom Alltag um sie herum scheint sie kaum etwas mitzubekommen. Sie hat nur ein Bedürfnis: Laufen. Unentwegt.

"Als meine Mutter im November 2008 hierher kam, da war sie noch viel fitter", erzählt Rosi Böhmer. Regelmäßig nahm sie am gemeinsamen Kochen der Bewohner teil. Sie erkannte ihre Kinder und konnte auf den Fotos in ihrem Zimmer die einzelnen Familienmitglieder benennen. Heute hingegen huscht nur noch ein scheues Lächeln über ihre Lippen, wenn sie ihre Tochter sieht. "Sie weiß, dass ich irgendwie zu ihr gehöre. Aber meinen Namen kennt sie nicht mehr." Einmal pro Woche besucht Rosi Böhmer ihre Mutter im Seniorenzentrum der Barmherzigen Brüder Rilchingen im Saarland, einer Einrichtung der BBT-Gruppe - an den anderen Tagen schauen ihre Geschwister vorbei. Meist gehen sie dann gemeinsam den Flur entlang.

Meine Mutter fühlt sich hier wohl – Rosi Böhmer

Eine bestmögliche Versorgung

Es war eine schwere Entscheidung, damals vor sieben Jahren, die Mutter ins Pflegeheim zu geben, erinnert sich Rosi Böhmer. Zunächst hatte sie sie bei sich aufgenommen, aber Rosemarie Berger wollte immer nur weg. "Tagsüber hat sie die Tür zu unserem Wintergarten nie aufbekommen. Aber nachts, wenn wir schliefen, da hat sie es plötzlich geschafft." Ein Nachbar habe die verwirrte Frau dann morgens um halb fünf im Schlafanzug bei sich im Vorgarten gefunden. "Was sollte ich machen? Ich konnte die Mutti doch nicht einsperren!" Zudem sei Rosemarie Berger damals enorm aggressiv gewesen. "Bei jeder Kleinigkeit wurde sie richtig bös", erzählt ihre Tochter. Im Heim habe sich das dann schnell gegeben. Und so ist sich Rosi Böhmer sicher: "Meine Mutter fühlt sich hier wohl."

Konzept für Demenzkranke

Dass Rosemarie Berger in ihrer Wohngruppe gefahrlos die Gänge entlanglaufen und auch mal raus in den Innenhof gehen kann, dass sie selbst nachts vom Pflegepersonal nicht an ihren Spaziergängen gehindert wird, verdankt sie dem speziellen Konzept "Begleitung in einer anderen Welt", das die BBT-Gruppe zur Pflege demenzkranker Menschen entwickelt hat. Und das wird in Rilchingen durchaus wörtlich genommen, wie Wohngruppenleitern Ellen Grahn erläutert: "Demenzkranke Menschen können uns in unserer Welt nicht mehr folgen. Also müssen wir sie, soweit dies möglich ist, in ihrer Welt begleiten."

Demenzkranke Menschen können uns in unserer Welt nicht mehr folgen. Also müssen wir sie in ihrer Welt begleiten. – Ellen Grahn, Wohngruppenleiterin Barmherzige Brüder Rilchingen

Beispiel Bewegungsdrang: Demente Menschen verspüren oft eine große Unruhe. Die Konzentrationsfähigkeit ist ihnen weitgehend abhandengekommen, kaum etwas schaffen sie noch ohne fremde Hilfe - aber laufen, das können sie noch. "Unsere Wohngruppe ist daher ganz bewusst so konzipiert, dass die Bewohner ihre Spaziergänge machen können, ohne Gefahr zu laufen, sich zu verirren", erklärt Leiterin Grahn. Im Innenhof können sie frische Luft schnappen, wärmende Sonnenstrahlen oder auch mal einen kalten Novemberwind spüren. Auf Treppen und Schwellen wurde beim Bau verzichtet, um das Unfallrisiko so gering wie möglich zu halten. Und weglaufen können die Bewohner nicht, denn die Außentür ist mit einem Code gesichert.

Oft sind es die kleinen Dinge des Alltags, die den demenzkranken Menschen Probleme machen. Die einen wollen um 5 Uhr morgens ihr Frühstück, andere wiederum behaupten um 22 Uhr steif und fest, dass sie noch nicht zu Abend gegessen hätten. "In klassischen Pflegeheimen schickt man solche Menschen oft wieder ins Bett, beantragt notfalls sogar eine Fixierung", berichtet die Wohngruppenleiterin. "Bei uns hingegen schmiert ihnen die Nachtschwester kurzerhand ein Brot." Schließlich komme der Bewohner ja, weil er Hunger hat. Und dieses Hungergefühl müsse man ernst nehmen.

Biografie ist der Schlüssel

Einen wichtigen Schlüssel zu den demenzkranken Menschen und ihrer "anderen Welt" findet das Pflegepersonal in deren Biografien. "Ganz wichtig ist immer die Kindheit", berichtet Ellen Grahn. Während Ehepartner oft "wie ausradiert" seien, spielten die Eltern eine zentrale Rolle. Manche fühlten sich wie Kinder, die vor allem einen Wunsch haben: heim zur Mama gehen. Um möglichst viel über die Kindheit der Bewohner zu erfahren, sucht das Personal den Kontakt zu den Angehörigen. Schon bei der Anmeldung werden sie gebeten, einen Biografiebogen auszufüllen. Und auch später werden sie in die Pflege aktiv mit einbezogen.

Eine Angehörige wie Helga Bähr ist daher ein Geschenk für die Einrichtung. Jeden Tag besucht sie ihren schwer demenzkranken Mann, verbringt den Nachmittag und Abend mit ihm, bringt ihn schließlich auch ins Bett und singt ihn in den Schlaf. "Frau Bähr ist eine ganz besondere Angehörige", sagt Wohngruppenleiterin Grahn - was die resolute ältere Dame mit einem beherzten "Ach Quatsch!" beantwortet. Um dann, ganz bescheiden, anzufügen: "Er hätte das auch für mich gemacht."

Ludwig Bähr war früher ein sehr aktiver Mensch. Er war im Karnevalsverein und im Kirchenchor. Und er hat gemalt - leidenschaft lich gern. Einige der schönsten Bilder hängen heute in seinem Zimmer. Ob der alte Mann sie noch erkennt? Ganz still sitzt der 76-Jährige in seinem Rollstuhl, legt nur hin und wieder eine Hand auf seinen Kopf, blickt irgendwohin ins Leere. Und ab und an umspielt ein Lächeln seine Lippen. Dass er so ruhig ist, wertet seine Frau als untrügliches Zeichen: "Es geht ihm gut hier." Früher sei er oft rebellisch gewesen, hätte Pflege nur ungern zugelassen. Jetzt aber sei er viel entspannter. Und das sei nicht zuletzt ein Verdienst des Pflegepersonals: "Alle hier sind lieb und nett und tun ihr Möglichstes, auch wenn das manchmal sehr schwer ist."

Viele Aktivitäten

Dass das Personal nicht nur "lieb und nett" ist, sondern auch bestens geschult, erläutert Wohngruppenleiterin Ellen Grahn. "Alle haben eine Zusatzausbildung." Sie haben gelernt, sich auf demenzkranke Menschen psychologisch einzulassen. Und sie bieten eine Vielzahl an pflegetherapeutischen Aktivitäten an, um die Bewohner nach Kräften zu fördern. Besonderen Wert legt das Team auf Basale Stimulation. Hierbei wird die Wahrnehmungsfähigkeit der Bewohner geschult, indem eine Pflegerin etwa die Hände mit einem ätherischen Öl einreibt oder ein Stück Obst zum Betasten gibt. Zu den weiteren Aktivitäten gehören wöchentliche Back- und Kochvormittage, gemeinsames Singen, Bewegungsübungen oder Angebote zur Erinnerungspflege.

Gerade letzteres wird groß geschrieben in der Wohngruppe St. Hedwig, die gleichsam selbst eine Reise in die Vergangenheit darstellt. Auf allen Fluren hängen Bilder und Gegenstände aus früheren Tagen: Filmstars von Audrey Hepburn bis Cary Grant lächeln von der Wand, Puppen, Küchengeräte und Handwerksutensilien erinnern an längst vergangene Zeiten, ein Raum gleicht einem Wohnzimmer der 1960er Jahre. Liebt es Rosemarie Berger daher so sehr, über den Flur zu laufen? Genau weiß das niemand. Gewiss ist nur eines: Die alte Dame lebt ebenso wie ihre Mitbewohner in ihrer eigenen Welt. In dieser Welt wird sie vom Personal der Wohngruppe nach Kräften begleitet. Und wenn sie sich dabei so richtig wohlfühlt, dann gibt sie Leiterin Ellen Grahn einen dicken Kuss auf die Wange - und strahlt dabei übers ganze Gesicht.

Text: Andreas Laska |  Fotos: Harald Oppitz

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