Wäre mit einer Impfpflicht nicht alles leichter? Manch eine*r mag sich nach klaren Vorgaben in diesem zweiten Corona-Herbst sehnen, um der vierten Welle etwas Entschiedenes entgegen zu halten. Alles nicht so einfach, findet auch unser Autor Dr. Peter-Felix Ruelius. Und wie so oft eine Frage der Perspektive.
„Seltsam, Im
Nebel zu wandern! Leben ist Einsamsein. Kein Mensch kennt den andern,
Jeder ist
allein.“ Hermann Hesse hat da ein richtig schönes Weltschmerz-Gedicht
hinterlassen. Passend für den November. Jedes Jahr wieder. In diesem Jahr wabert
der Nebel besonders dicht: der Informations-, Desinformations- und
Stimmungsnebel rund um Corona. Der sorgt dafür, dass ich nicht mehr durchblicke.
Und einige andere auch nicht, so mein Eindruck.
Erinnern Sie
sich noch? Die ersten Bilder aus den Altenheimen Ende Dezember 2020 –
überglückliche Erstgeimpfte. Endlich gibt es Impfstoff! Alte Menschen freuen sich
wie Kinder. Und sie haben ja auch allen Grund dazu: Der Impfstoff ist der
Stoff, aus dem die alte, neue Bewegungsfreiheit kommt. Und das Wiedersehen mit
Kindern und Enkeln. Und der Ausflug. Ach Kinder, wird das schön!
Aber in
Deutschland ist ja vieles nicht so einfach. Meine Hypothese, die ich schon während
der ganzen Pandemie bestätigt finde, lautet: Die Pandemie verstärkt deutlich viele
Charaktereigenschaften, die Menschen auch vor Corona schon hatten. Jedenfalls beobachte
ich das in meinem Umfeld. Die Besonnenen werden besonnener, Ängstliche werden
ängstlicher. Neidische werden neidischer und Gierige werden gieriger, die
Unzufriedenen werden unzufriedener, Besserwisser wissen es noch besser und die
Nörgler laufen zu Hochform auf. Nach den Hamsterkäufern, den Maskenverweigerern,
den Querdenkern und den Coronaleugnern läuft der Impfneid durchs Land: Wer darf
schon? Wer mogelt sich dreist unter die Berechtigten?
Ich bin
keiner der Corona-Propheten, die schon wissen wie die Geschichte weitergeht.
Aber diesmal hatte ich recht: „Wartet ab“, sage ich im Freundeskreis, „das
dauert nicht lange und dann dreht sich die Lage um, dann gibt es mehr Impfstoff
als Menschen, die bereit sind, sich impfen zu lassen.“ Wie die Geschichte
weitergeht, ist bekannt. Impfzentren öffnen, Hausärzte außen vor lassen,
Hausärzte dazu nehmen, Impfzentren schließen, Testzentren schließen,
Testzentren vielleicht doch wieder öffnen, Impfzentren vielleicht doch wieder
öffnen. Impfen bleibt freiwillig. Impfen wird vielleicht doch verpflichtend,
wenigstens für manche Gruppen. Einen Lockdown darf es nicht mehr geben. Oder
doch? Vielleicht nur einen für Ungeimpfte? Das Wort „Impfpflicht“ ist in meinem
aktiven Wortschatz ähnlich neu wie „Impfverweigerer“.
Ja, was denn nun?
Seltsam, im Nebel zu wandern. Ich bekomme für mich keine Klarheit. Ich will,
dass Entscheidungen für Impfungen freiwillig bleiben. Und gleichzeitig will ich,
dass viele geimpft sind. Ich will, dass auch Regierungen ihr Wort halten. Und
weiß doch: Die hatten ja auch noch keine Pandemie mit erster, zweiter, dritter
und vierter Welle.
Eine Familiengeschichte in meinem Umfeld, wie sie so viele erleben: Der Opa, jetzt 85 Jahre alt, will seine Enkel endlich wieder sehen. Er hat eine Chemotherapie hinter sich und muss warten, bis er geimpft werden kann. Endlich ist es so weit. Vor der Fahrt zu den Enkeln lässt er einen Antikörpertest machen. Das Ergebnis, warum auch immer: Keine nennenswerten Antikörper im Blut. Also nochmal impfen. Das Wiedersehen mit den Enkeln ist erstmal abgesagt. Selten habe ich ihn so resigniert erlebt. Abwarten ist kein überzeugender Rat für jemanden, der 85 Jahre alt ist. Er gäbe viel darum, dass endlich fast alle Menschen geimpft sind, dass der Impfstoff auch ihn schützt und die Pandemie sich endlich verzieht. Er hat Angst, dass ihm die Zeit davonläuft. Aus seiner Sicht wäre eine Impfpflicht gut.
Eine andere Erfahrung mache ich in meinem Chor. Hier hatten wir immer einen großen Zusammenhalt. Seit Beginn der Pandemie gab es eine elend lange Durststrecke. Chorsingen galt schnell als das Super-Spreading-Event schlechthin – ein Hochfest für Aerosole. Also abwarten. Im Sommer: Ein paar Proben unter freiem Himmel. Noch nicht ideal. Aber, wenn erstmal alle geimpft wären, dann könnten wir doch wieder proben wie gewohnt. Mittlerweile ist es so weit. Mit Vorsichtsmaßnahmen, das schon. Aber wir singen endlich wieder. Bis auf zwei, die angegeben haben, dass sie nicht geimpft sind und das auch nicht vorhaben. Die Aufforderung, dass sie sich mit großem Abstand zu den anderen setzen sollen, hat etwas von Bloßstellung. Das fühlt sich überhaupt nicht gut an. Am Ende verlassen sie den Chor. Blöd gelaufen und einfach schade. Verständnis? Für Impfverweigerung? Nein. Aber doch dafür, dass auch Menschen, die gegen eine Impfung sind, ihre Würde behalten müssen. Bloßstellung passt nicht zu dem Stil, den ich aus dem Chor kenne.
Im
Fachausschuss Ethik erzählt eine Kollegin von ihrer Tochter, die in Dänemark
lebt. Die Pandemie nimmt dort auch wieder Fahrt auf, das stimmt. Aber
offensichtlich gibt es in Dänemark einen größeren Zusammenhalt in der
Gesellschaft. „Samfundssind“ – „Gemeinschaftssinn“ wird immer wieder genannt,
wenn man danach fragt, was dieses Land auszeichnet. Die Bereitschaft, für
andere etwas zu tun und in Kauf zu nehmen, scheint dort größer zu sein als
anderswo. Ich kann das aus eigener Erfahrung nicht überprüfen. Aber der Gedanke
ist richtig gut. Wo Gemeinschaftssinn herrscht, suche ich nach dem, was alle
gemeinsam voranbringt. Dann rede ich nicht mehr von „Impfpflicht“. Dann ist es
so etwas wie eine Ehrensache. Dann bin ich einfach dabei. Mit im Boot.
Freiwillig. Kommen wir dahin?
Seltsam, im
Nebel zu wandern. Ich habe das Gefühl, dass es unzählige „Nebel-Wanderer“ gibt,
die einsam für sich und ohne klares Bild einen Schritt vor den anderen setzen
und hoffen, dass sich der Nebel endlich verzieht und sie wieder klar sehen, was
richtig ist. In Sachen Impfpflicht bleibe ich selbst bestimmt noch eine Weile
im Unklaren. In Sachen Impfung allerdings bin ich klar wie selten und würde
jedem zurufen: „Ärmel hoch!“