Die Medizinethik ist ganz schön gefragt in dieser Zeit. Wie überhaupt die Ethik. Und damit auch jene Mitarbeitende, die mit Ethik und christlicher Unternehmenskultur beschäftigt sind. Ein Blick in den Arbeitsalltag von Peter-Felix Ruelius, der den Zentralbereich in Koblenz leitet.
Seit
drei Wochen fällt donnerstags meine Chorprobe aus. Dafür jeweils ein
Online-Meeting der AEM. Die AEM ist die Akademie für Ethik in der Medizin. Im
Vorstand: Alfred Simon und Georg Marckmann, zwei führende Medizinethiker in
Deutschland. Beide veranstalten das Online-Meeting nun schon zum dritten Mal.
Mehr als 150 Teilnehmer kommen hier zusammen, Ethikberater aus den
Krankenhäusern und Trägern. Wir bringen einander auf den neuesten Stand und
diskutieren live oder im Chat über die Fragen, die gerade anstehen, erfahren
auch eine Menge über die Entstehung neuer Dokumente bei den Fachgesellschaften
und Verbänden in Deutschland und Österreich.
Die
Medizinethik ist ganz schön gefragt in dieser Zeit. Wie überhaupt die Ethik.
Und so kommt es, dass sperrige Themen wie "Allokation" und "Triage" es auch in
die Presse schaffen. Mit Allokation meint man generell die Frage der Zuteilung
knapper Ressourcen. Das beschäftigt das Gesundheitswesen zwar schon lange,
jetzt aber mit viel größerer Dynamik. Vor allem über zwei Dokumente schreiben
große und kleine Zeitungen. Das eine: die Veröffentlichung der DIVI, das ist
die Deutsche Interdisziplinäre Vereinigung für Intensiv- und Notfallmedizin.
Gemeinsam mit anderen medizinischen Fachgesellschaften hat die DIVI sich
Gedanken darüber gemacht, wie und nach welchen Prinzipien Ressourcen verteilt
werden sollen, die knapp werden könnten. Ressourcen: Hauptsächlich geht es um
Beatmungsplätze auf der Intensivstation. Das zweite Dokument: Der Deutsche
Ethikrat hat am letzten Freitag auch eine Stellungnahme abgegeben. Und seitdem
sind auch regionale und lokale Zeitungen, Radiosendungen und Fernsehtalkshows
auf Ethik-Kurs.
Fast
jeder hat das Wort Triage jetzt schon einmal gehört. Im engeren Sinn kommt die
"Triage" aus der Katastrophenmedizin. Hier gilt das Prinzip, dass möglichst
viele Menschenleben gerettet werden sollen, wenn ein Unglück wie ein großer
Unfall oder ein Attentat auf einmal zu einer großen Zahl Verletzter führt.
Möglichst viele Menschenleben - das kann nur gelingen, wenn die Notärzte
wissen, wem sie zuerst helfen müssen, wer noch eine gewisse Zeit ohne ärztliche
Hilfe überleben kann oder wer nur leichtere Verletzungen hat und daher keine
ärztliche Hilfe braucht. Und dann gibt es bei diesen Katastrophen auch
Verletzte, die auch mit ärztlicher Hilfe nicht gerettet werden können. Diese
Einteilung ist für Ärzte schwer, aber sie hilft dabei, das Richtige zu tun. Was
ganz wichtig ist: Es geht auch hier immer um die Einschätzung der medizinischen
Notwendigkeit und die Behandlungschancen. Nicht um das Alter, nicht um die
soziale Stellung. Und auch wenn jemand mit einem Bündel Geldscheine wedelt,
bekommt er die Behandlung, die für ihn jetzt notwendig ist und keine bessere
und schnellere als ein armer Mensch, der neben ihm liegt.
Was
für eine Verunsicherung: Meinen Nachbarn, 83 Jahre alt, sehe ich jeden Tag,
wenn er im Garten arbeitet. Einer von den rüstigen Alten. Letzten Montag war er
ganz zerknirscht. "Ich falle ja durch alle Raster. Bei meinem Alter, und eine
Herzschwäche habe ich ja auch noch! Wenn ich jetzt krank werde, habe ich ja
keine Chance mehr". Und aus Angst geht er jetzt auch nicht mehr zum Einkaufen.
So wirkt das, wenn jemand in der Zeitung etwas von Triage liest.
In der BBT-Gruppe haben wir intensiv mit einer kleinen Gruppe an einer Richtlinie zu diesen Fragen gearbeitet. Wir sind nicht schlauer als Fachgesellschaften und Ethikräte, aber für Dr. Rethmann, als Geschäftsführer auch für den Bereich der Unternehmenskultur und Ethik zuständig, war es wichtig, dass wir festhalten, was uns wichtig ist. Es darf keinen Unterschied zwischen den Menschen geben, die behandelt werden. Die Gleichheit der Menschen bekommt noch einmal ein großes Ausrufezeichen. Und ganz wichtig: Das Alter ist kein Entscheidungskriterium, ob eine Behandlung begonnen wird oder nicht. Und weil wir wissen, dass die Entscheidungen schwer sein können, gibt es jetzt in jeder Einrichtung einen ethischen Bereitschaftsdienst, der Ärztinnen und Ärzte bei ihren Entscheidungen unterstützen soll.
Und dann höre ich von einer Geschichte aus Italien: Ein alter Priester, für den seine Gemeinde ein Beatmungsgerät organisiert habe, soll es an einen jüngeren Patienten weitergegeben haben. Der Priester sei kurz darauf verstorben. Die Geschichte hat sich wohl so nicht zugetragen, aber sie kommt gut an bei manchen Leuten. Was für ein Beispiel für Nächstenliebe. Mir wird ziemlich übel: Was für ein Signal an alte Menschen! Beatmung sollen jüngere haben oder wie ist das gemeint? Meine gut katholische Schwiegermutter, die das auch erst mit tiefem Respekt zur Kenntnis genommen hat, sagt nach einer Runde Nachdenken dann sehr klar und entschieden: "Ich würde dann aber schon noch weiterleben wollen! Mir gefällt doch das Leben!"
Mich erreicht heute eine Nachricht von einem großen Klinikverbund. Eine Kollegin aus einem Caritasverband schickt sie mir. Der Krankenhausverbund schreibt alle Seniorenheime und ambulanten Pflegeeinrichtungen in der Region an, sie sollen dringend dafür sorgen, dass alle Bewohner ihre Patientenverfügung und den Notfallbogen auf dem neuesten Stand haben. Die Pflegekräfte sollen dafür sorgen und das mit den Bewohnern besprechen. Und im Anschreiben: "Bitte überprüfen Sie, ob eine Krankenhauseinweisung Ihrer Betreuten tatsächlich deren erklärtem Patientenwillen entspricht und verzichten Sie darauf, wenn das nicht der Fall ist." Fürsorge sieht anders aus.
Kranke
besuchen und Tote begraben: Vor ein paar Jahren hatte der Papst ein Heiliges
Jahr der Barmherzigkeit ausgerufen. Erinnern Sie sich noch? Die so genannten
"Werke der Barmherzigkeit" wurden damals wieder etwas populärer. Die Idee war:
Wir alle sind aufgerufen, einander vor allem im Modus der Barmherzigkeit zu
begegnen. Kranke besuchen und Verstorbene begraben: Das sind zwei der
überlieferten Werke der Barmherzigkeit. Kranke besuchen - das ist heute ganz
schön eingeschränkt. Wo immer das möglich ist, soll das auch in unseren
Einrichtungen möglich bleiben.
Wir
dürfen ja nicht mit dem Virus auch die gelebte Barmherzigkeit aus unseren
Häusern ausschließen. Menschen sollen nicht alleine sterben müssen, weil ein
Angehöriger keinen Zugang zu ihnen bekommt. Und sich von einem Verstorbenen
noch einmal verabschieden zu können ist für den Prozess der Trauer wichtig.
Am Freitagvormittag noch eine Telefonkonferenz des Arbeitskreises der Ethikbeauftragten der Träger katholischer Einrichtungen. In dem Kreis sind wir, Ethikbeauftragte aus ganz Deutschland, seit knapp drei Wochen in einem Austausch: Was macht ihr? Welche Fragen haben eure Ärzte? Wie sieht es bei euren Altenheimen aus? Wie organisiert ihr jetzt die Ethikberatung? Es tut einfach gut, voneinander zu hören, einander Tipps geben zu können. Die Ethik-Landschaft in diesen Zeiten ist lebendig. Bei den kirchlichen Trägern, aber auch sonst. Im vergangenen Jahr hatte die Ethikberatung in deutschen Krankenhäusern ein kleines Jubiläum: Es sind jetzt zwanzig Jahre, dass es Ethikberatung, Fallbesprechungen und Ethikbeauftragte in deutschen Krankenhäusern gibt. Ab und zu hört man die Rückmeldung, dass man Ethikberatung im Grunde doch nicht brauche. In diesen Tagen ist es anders. Da hört man nicht nur von Ärzten: Gut, dass ihr uns in den Fragen und Entscheidungen begleitet. Gut, dass ihr Leitplanken vorgebt. Gut, dass ihr auch im Hintergrund zur Beratung zur Verfügung steht. Eigentlich ganz schön, wenn man das Gewicht, das Ärzte und Pflegende in dieser Zeit auf ihren Schultern tragen, wenigstens ein bisschen leichter machen kann.